Bandscheibenvorfall

Eine Betrachtung aus philosophischer Sicht

Von Jan Markus Adams

Der Günstling Damokles wurde vom Tyrannen Dionysus zu einem Festmahl eingeladen. Dort wollte ihm jener zeigen, dass er sich auf dünnem Eis bewegt. Dazu ließ Dionysus ein Schwert über Damokles’ Sitzplatz aufhängen, das bloß an einem Roßhaar befestigt war. Nachdem Damokles dieses erblickt hatte, verstand er, in welcher Gefahr er sich befand und bat darum, das Festmahl verlassen zu dürfen.

Damokles erkannte die Gefahr und veränderte seinen ‘Status quo’, indem er sich bewegte. Wäre er reglos verharrt, hätte ihn womöglich das Schwert mit einem bohrenden, stechenden Schmerz getroffen.

Wäre er von vorneherein gar in Bewegung geblieben, statt sich zu Hofe Dionysus’ einzurichten, wäre er dieser Gefahr gar nicht erst ausgesetzt gewesen.

 

Ringerbrücke

 

Betrachtung der Bandscheiben

Unsere Bandscheiben sind Knorpelstrukturen, die zwischen den Wirbelkörpern unserer Wirbelsäule sitzen.

Sie sind Dämpfer bei Stößen und Kommunikationsmedium für Informationen über unsere Bewegungen und Positionen. Dazu benötigen sie Nährstoffe, Flüssigkeit und Sauerstoff. All die guten Dinge, die unsere Bandscheiben brauchen, können umso besser dahin gelangen, wenn Stoffwechsel und Herz-Kreislaufsystem aktiv sind. Sie sind sozusagen Selbstversorger. Wenn sie ein ausreichendes Maß an Bewegung erhalten, holen sie sich, was sie wollen.

Dazu passt es, dass die Bandscheiben Reize weiterleiten, die unserem Gehirn Aufschluss geben über Bewegungen und Positionen.  Um diese Aufgabe bewältigen zu können, müssen sie in Übung bleiben.

Handstand mit Bauch an der Wand

Wer rastet, der rostet…

Bewegung ist ein komplexes Themenfeld für unseren Körper. Dieser hat sich über mehrere Millionen Jahre darin geschult die verrücktesten Dinge zu treiben. Ein famoser Gleichgewichtssinn ermöglicht es uns auf dem Kopf zu stehen, auf den Händen zu laufen, uns aus der Rückenlage in eine Brücke zu drücken, uns an einem Ast hochzuziehen und ganz leise und behutsam zu schleichen während wir eine übervolle Tasse mit heißem Kaffee transportieren.

Die Bandscheiben sind unter anderem für die Reizleitung zuständig. Reizleitung im Hinblick auf Bewegung ist unglaublich anspruchsvoll. Unser menschliches Dasein gründet auf Bewegung. Menschen sind aktive Lebewesen. Die Identitätsbildung des Menschen geschieht durch Bewegung, da wir uns bewegen müssen um an Nahrung zu kommen. Vor Jahrtausenden musste dazu jeder Mensch eigene Strategien entwickeln. Am Ende des Tages zählte nur, dass Magen und Darm gefüllt waren.

Bewegung ist in unserem Genom verankert: Neugeborene haben einen Greifreflex um sich festhalten zu können und sind in der Lage eine gewisse Strecke zur Brust der Mutter kriechend zurückzulegen. Säuglinge müssen permanent den Kiefer vor und zurückschieben um Milch aus der Mutterbrust zu saugen. Der Kiefer ist der stärkste Muskel des Körpers…

Lange bevor Menschen an einem Schreibtisch sitzen können, lernen sie, sich auf eine Schulter zu drehen und nach hinten zu blicken. Der Kopf ist dabei in einer grotesk anmutenden Haltung verdreht. Nach einiger Zeit rollt der Säugling sich schließlich auf den Bauch. Dann lernt er den Oberkörper kraft der Arme hochzudrücken. Diese Position ähnelt sehr stark der Yogaposition ‘Kobra’ (Bhujangasana). Aus dieser Haltung erlernt der junge Mensch das Sitzen, das Krabbeln, das Gehen, das Hocken.

In orthopädischer Sicht ist jede einzelne Position unglaublich spannend zu betrachten. Für einen Säugling hingegen ist sie selbstverständlich und ein Mittel zum Zweck. Zu dem Zweck noch mehr Bewegungen zu erlernen. Bis der ehemalige Säugling an einem Schreibtisch sitzt und abends zu seiner Familie zurückkehrt, wo er mit der Familie am Tisch sitzend zu Abend isst und freudig seinem Sprössling bei den ersten Bewegungen zusieht…

Brücke

Homo Movens

Unsere Wirbelsäule ist ein hochkomplexes Gebilde. Ihre Gestaltung hat sich mit dem aufrechten Gang entwickelt.

Die Lendenwirbelsäule ist dick und starr. Sie bildet die Basis. Die Brustwirbelsäule bietet einen größeren Bewegungsradius und ist schmaler als die Lendenwirbelsäule. Sie vermag es, sich in nahezu alle Richtungen zu biegen und neigen. Dann kommt die Halswirbelsäule. Sie ist geradezu fragil, verfügt dafür aber über einen unglaublich großen Bewegungsradius. Durch sie können wir uns in der Welt orientieren und nach neuen Wegen suchen.

Stauchungen und Streckungen unserer Wirbelsäule, und insbesondere der Bandscheiben, geben dem Gehirn Rückmeldung darüber, wo und vor allem wie wir uns gerade irgendwo befinden.

Werden diese Meldungen im Laufe der Zeit zunehmend einseitiger, reagiert unser effizienzorientiertes Gehirn, indem es die Möglichkeiten der Bandscheiben einschränkt. Wozu sollten Fähigkeiten ermöglicht werden, wenn diese im Alltag gar genutzt werden?

Die Nährstoff- und Sauerstoffversorgung wird als Folgemaßnahme eingeschränkt. Betriebswirtschaftlich gesehen sollten diese Ressourcen besser dort eingesetzt werden, wo sie verwendet werden können. Die Bandscheiben verdorren sozusagen. Der Teufelskreis hat begonnen.

Verringerte Nährstoff- und Sauerstoffversorgung begünstigen die Inaktivität gewisser Areale, nachdem diese bereits durch Inaktivität aufgefallen sind. In dem Maße, wie bestimmte Bereiche immer weniger aktiv sind, werden andere Bereiche als aktiver wahrgenommen. So kommt es zu einer Versorgungsproblematik. Die, die wenig haben erhalten immer weniger. Die, die relativ gesehen, viel leisten, erhalten mehr. Bis es zu Ausfällen kommt. Diese werden zumeist von Schmerzen, Taubheit und Bewegungsunfähigkeit begleitet.

Dands/ Hindu-pushups

Und dann haben wir ein Problem!

Glücklicherweise ist ein Problem, etymologisch gesehen, ein Hindernis, das ein Feldherr zu überwinden hat. Im Wort selber liegt inbegriffen, dass es überwunden werden kann. Ähnlich dem Feldherrn, der sich nach einer Lösung umsehen muss, können auch wir damit beginnen “Ausschau zu halten”.

Hat sich unser Alltag bislang sitzend vor einem Bildschirm abgespielt, abends zum sportlichen Ausgleich vielleicht beim Bouldern, Radfahren oder Joggen, haben wir stets nach vorne bzw. leicht nach oben geschaut. Das heißt, trotz sportlicher Betätigungen, war die Wirbelsäule permanent in derselben Haltung und das womöglich noch mit derselben Belastung.

Wir haben nun die Möglichkeit unseren Blickwinkel zu verändern. Wir können nach oben, nach unten schauen, den Kopf zur Seite neigen, den Kopf beugen, recken und strecken. Dies können wir kombinieren mit einem Drehen der Schultern, nach vorne, nach hinten, nach oben, nach unten. Zusätzlich können wir den Oberkörper nach hinten und vorne beugen oder links und rechts neigen. Wir können uns verdrehen und wenden. Wir können uns sogar auf die Hände stellen und unser Leben aus einer komplett anderen Perspektive betrachten.

Hier kann es sich hilfreich sein, die Bewegungen nach geometrischen Mustern zu gestalten. Es gibt allein drei Dimensionen innerhalb derer wir Kopf, Burstkorb und Rumpf ausrichten können. Je skurriler unsere Gymnastik abläuft, desto mehr wird unsere Wirbelsäule gefordert. Die Wahrnehmung im Raum wird dadurch ebenso geschult, wodurch sich das Programm noch sicherer im Gehirn verankert und nachhaltiger zu einer gesunden Wirbelsäule beiträgt.

All das ist weder anstrengend, noch zeitraubend. Wir brauchen dafür nichts erlernen, unser Gehirn und unsere Wirbelsäule können das seit Tausenden von Jahren. Auf diese Art stauchen und strecken, quetschen und dehnen wir die Bandscheiben, um unserem Gehirn zu zeigen, dass sie gebraucht werden und uns einen guten Dienst erweisen.

Zu Beachten gilt, dass die Bewegungen kontrolliert erfolgen müssen. Dazu kann ein langsames Tempo gut beitragen. Auch statisches Halten gewisser Positionen, die uns besonders angenehm erscheinen ist nützlich.

Besser spät als nie

Falls es bereits zu einem Bandscheibenvorfall gekommen ist, gilt zur Rehabilitation dasselbe wie zur Prävention: kontrollierte Bewegungen in alle möglichen (das ist wörtlich zu nehmen) Richtungen verhelfen dazu die Bandscheiben mit Nährstoffen, Sauerstoff und Flüssigkeit zu versorgen. Durch Bewegungen, die in einem schmerzfreien Radius erfolgen, bemerkt das Gehirn, dass das verletzte Areal wieder aktiv ist und wahrgenommen werden will. Infolgedessen schenkt das Gehirn dem Bereich wieder Aufmerksamkeit und der Bewegungsradius steigert sich mit zunehmender Heilung.

Ein Bandscheibenvorfall mag schmerzhaft sein, doch es handelt sich hierbei lediglich um eine Verletzung von Knorpelstrukturen, ähnlich eines Meniskusschadens. Unser Körper kann damit umgehen und sich heilen, wenn wir ihn lassen.

Vor einigen Jahren hatte ich eine interessante Diskussion mit einer jordanischen Radiologin. Sie war begeistert von der Tatsache wie gerade gewachsen europäische Wirbelsäulen seien und fand es erschreckend, dass sie aus ihrer Heimat unzählige Fälle von Skoliose und anderen Deformierungen kannte. Ich hingegen glaubte, aufgrund der extrem hohen Anzahl chronischer Rückenschmerzen in Deutschland, müsste es genau andersherum sein. Wir kamen schließlich überein, dass Schäden der Wirbelsäule für unser Gehirn belanglos bleiben, solange sie ausreichend Bewegung erfährt. Dann braucht unser Gehirn keinen Schmerz verspüren, der auf eine mögliche Gefahr hinweist.

Die Moral

Wir sind keine Günstlinge, wie Damokles es war, der passiv am Hofe eines Tyrannen gelebt hat, von dem er abhängig war und selbst in Lebensgefahr noch um Erlaubnis bitten musste, sich zu retten.

Wir sind die Akteure unseres Lebens. Wir tragen die Verantwortung. Wir gestalten unser Leben.

Durch Bewegen schützen und heilen wir uns.

Es gibt kein Damoklesschwert und wir sind nicht Damokles.

Tiefste Position eines Dands

 

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