Old School Calisthenics
von Jan Markus Adams
Das Wort Calisthenics stammt aus dem Griechischen und leitet sich von den Wörtern σθένος (‘sthenos- stark’) und καλός (‘kalos- schön’) ab. Frei übersetzt könnte man es mit ‘stark und schön’ oder ‘schöne Kraft’ wiedergeben. Sinngemäß bedeutet es, eine Harmonie zu schaffen zwischen Kraft und Leistungsfähigkeit und Anmut und Eleganz.
Der Begriff Calisthenics bezieht sich auf ein Trainingskonzept, das gemäß dem antiken griechischen Ideal Kalokagathia (‘καλοκἀγαθία’- schön und tugendhaft) absolviert wurde. Dieses Ideal hat einen Menschen zum Ziel, der sich durch einen wohlgeformten Körper und ein moralisch gutes Handeln auszeichnet. Folglich muss das Training neben den körperlichen Fähigkeiten wie Kraft, Ausdauer, Beweglichkeit auch mentale Eigenschaften fördern, wie Kraft, Ausdauer und Beweglichkeit.
Ebenso wie der Körper es vermögen muss, sich gegen Widerstände durchzusetzen, muss auch der Geist Unbill ertragen können und widerstehen. Auch der Geist muss konzentriert an der Umsetzung eines Zieles arbeiten können und notfalls rege genug sein um neue Lösungsansätze zu generieren.
Training mit Hingabe
Demgemäß ist klassisches Calisthenicstraining nichts An-Sich-Spektakuläres. Es wird erst spektakulär, wenn es über Jahre hinweg mit Hingabe praktiziert wird. Doch auch dann könnte man den Wert nicht in einem YouTube-Video einfangen, sondern durch den persönlichen Kontakt mit einem Praktizierenden. Geistige Klarheit, Zielstrebigkeit und Einfühlungsvermögen sind Früchte, die aus der Saat des täglichen Trainings sprießen. An dieser Stelle ist der antike Gedanke der Entwicklung von Nachhaltigkeit und Ganzheitlichkeit spannend: es galt sich nicht nur im körperlichen Training zu schulen, auch Dichtkunst und Musizieren sollten geübt werden. Körper und Geist wurden als Einheit aufgefasst. Der Mensch nach dem klassischen Ideal wurde auch in der Trainingslehre als Ganzes behandelt.
So wurden klassische Calisthenicsübungen im Rhythmus zu Flöten- und Trommelklängen ausgeführt um dem Geist Führung zu geben. Es handelt sich hierbei um Übungen, bei denen über einen längeren Zeitraum zahlreiche Wiederholungen ausgeführt wurden. Dadurch wurden Körper und Geist ausdauernd im Aushalten von Strapazen.
Neben den Muskeln und dem Herz-Kreislaufsystem stärkt diese Form des Trainings die Faszien. Das sind Bindegewebsstrukturen, die sämtliche Organe des Körpers einhüllen und dadurch verbinden. Sie sind in gewisser Weise das Baumhaustelephon des Körpers. Durch ihre Bewegungen, Streckungen, Verkürzungen und Vibrationen, nehmen sämtliche Teile des Körpers wahr, dass etwas geschieht oder geschah. Dies verläuft in einer Art Kettenreaktion und breitet sich wellenförmig im Körper aus.
Die Faszien sind zum Einen extrem belastbar, wodurch sie ein großes Potential bieten um die körperliche Leistungsfähigkeit ins Unermessliche zu steigern. Zum Anderen sind sie äußerst sensibel, was sie als Kommunikationsweg innerhalb unseres Körpers so bedeutsam macht. Der Aufbau klassischen Calisthenicstrainings zielt auf eine Verbesserung der Zusammenarbeit von Geist und Körper ab. Genau dies wird erleichtert, durch das Training der Faszien. Zu Beachten ist allerdings, dass sie nur dann hohe Leistungen erbringen können, wenn sie konstant und schonend darauf trainiert werden. Unregelmäßiges Training und ein Erreichen oder gar Überschreiten der Belastungsgrenze führen zu einer Überforderung. Dann strömt zuviel auf unsere Faszien ein, was sie nicht bewältigen können.
Herodot und die 300
Erstmals erwähnt wurde kalisthenisches Training beim griechischen Geschichtsschreiber Herodot. Dieser verfasste als Erster einen Bericht über die Schlacht an den Thermopylen, in der gemäß der Legende Herodots dreihundert spartanische Kämpfer drei Tag lang einem eine Millionen Mann starken persischen Heer standhielten.
Am ersten Morgen sollen persische Boten ihrem König Xerxes berichtet haben, dass der spartanische König Leonidas und seine dreihundert Spartaner gemeinsam rhythmische gymnastische Übungen vollführen. Der allgemeinen Deutung nach haben sich die spartanischen Krieger auf die Schlacht vorbereitet. Es war demnach eine Art Aufwärmtraining vor dem Kampf.
Meiner Meinung nach haben sie ihr allmorgendliches Trainingsprogramm absolviert. Sie waren ihr Leben lang für den Kampf trainiert und hatten bereits zahlreiche Kämpfe überlebt. Da war es naheliegend, dass sie auch in Anbetracht dieser Schlacht ihre Morgenroutine beibehielten. Sie waren realistisch genug zu wissen, dass der Sieg auf ihrer Seite sein konnte, solange sie das taten, was sie am Besten konnten: Trainieren und Kämpfen.
Obwohl den Spartiaten mehrere hundert andere Kämpfer aus griechischen Stadtstaaten beistanden, verloren sie nach drei Tagen des Kämpfens gegen die persische Übermacht. Doch ihr Widerstand hatte ausgereicht um ein griechisches Heer aufzustellen, das die potentiellen Invasoren schließlich in die Flucht schlug.
So konnte Herodot eine kühne ‘Darstellung’ der Geschehnisse verfassen und die Heldentaten seiner Landsleute preisen, die ohne ein sinnvolles Training, das die Spartaner und Athener täglich durchzuführen pflegten nicht möglich gewesen wäre.
Alexander und sein Gastgeschenk
Schließlich war es, fast hundertfünfzig Jahre später, Alexander der Große, der auf seinem Indienfeldzug durch Persien kam und dort vermutlich die griechische Körperkultur ansiedelte.
Für die Griechen war das kalisthenische Training lediglich ein Mittel zum Zweck. Viel höher angesehen war bei ihnen der Ringkampf. Ringen war die Betätigung der Aristokraten, der Oberschicht, der Bürger. Die Philosophen Sokrates und sein Schüler Platon sollen beide angesehene Ringer gewesen sein.
Zahlreiche Eigenheiten der griechischen Ringkampfkultur sind heutzutage noch in Persien und Indien wiederzufinden. Sowohl Trainingsmethoden wie klassisches Calisthenicstraining, als auch Eigenheiten des Ringens.
Insofern dürfen wir davon ausgehen, dass beide Länder durch ihr Kultivieren des Ringens uns ein wichtiges Zeitzeugnis des Trainings erhalten haben.
“Sir Atholl Oakley once described Gama’s typical day. Gama would rise regularly at 5am. He would swim and stretch for two hours, followed by a breakfast of mainly raw vegetables and 8 glasses of milk. Between 7am -10am, he would do calisthenics, consisting of Indian style squats in very high sets of 100 reps, often 2000 (20 sets) per day, followed by Cat/Hindu style push-ups done similarly. […]”
The Mighty Atom takes it back
Joseph L. Greenstein, bei seiner Geburt Yoselle Grünstein genannt, war ein bitterarmer polnischer Jude, der mit vierzehn Jahren von zuhause fortlief und sich einem Wanderzirkus anschloss. Dort war er der Protège des starken Mannes des Zirkus’, Volanko, der sich seiner annahm und aus dem unterernährten schwindsüchtigen Jungen und einen kräftigen jungen Mann werden ließ.
Die Reise des Wanderzirkus dauerte etwa ein Jahr. In dieser Zeit reisten sie von Polen nach Indien, wo sie in Punjabi Volankos Freund, Gama, trafen.
“[…] At last, he [Yoselle] and Volanko arrived at a place whcih was crowded with a chattering throng; they were the only Europeans among them. It was a wrestling ring. For centuries wrestling was the national sport of India, and it was treated with some formality. In the center of a loose earthen pit, two massive Indian wrestlers stood naked except for breech clothes, their black mustaches preened and heads shaven. Each raised a weighty gold scepter-mace, his badge of championship. This formality concluded, the two men faced each other in the open pit. The crowd took up a chant calling the name “Gama” again and again as the match began. In a matter of seconds, the smaller man upended his opponent and slammed him to the earth as a roar went up. A gross mismatch. The victor was Volanko’s friend, “Gama, the Lion of the Punjab”, who would in years to come be recognized by western sports historians as the greatest wrestler of the twentieth century. […]” (aus: Spielman, Ed: The Spiritual Journey of Joseph L. Greenstein. The Mighty Atom. World’s Strongest Man. New York, 1979. S. 12- 13)
Während der Reise erlernte Yoselle von Volanko und in Indien von Gama Ringen und indische Trainingsmethoden, wie Yoga, Atemtechniken des Pranayama und Thermoregulationstechniken. Er emigrierte schließlich in die USA, wo er unter dem Namen ‘The Mighty Atom‘ eine Karriere als Strongman begann und auch im hohen Alter von 80 Jahren noch beachtliche körperliche wie mentale Leistungen vollbrachte. Er praktizierte die erlernten Techniken allmorgendlich, bis er mit 84 Jahren starb.
Es gelang ihm, zu beweisen, dass nicht grobe Körperkraft Ursache für Stärke ist, sondern Stärke im Geist entsteht. Sein Ausspruch ‘mind over matter’ verdeutlicht dies. Am eigenen Leib hatte er körperliche Schwäche erfahren und wie diese durch regelmäßiges psychophysisches Training in Stärke gewandelt werden kann. Sein Lebenswerk ist gegründet auf Willen und Hingabe.
Old School Calisthenics im 21. Jahrhundert
Heutzutage sind die letzten Bastionen für klassische Calisthenicsübungen die Ringkampfschulen in Persien und Indien. Dort werden seit Jahrhunderten täglich rhythmische zirkuläre Kraftausdauerübungen praktiziert, die Körper und Geist fordern und stärken. Die Übungen erfolgen im Atemrhythmus und zeichnen sich dadurch als herausragendes Ausdauertraining aus.
Sie werden täglich ausgeführt, doch nie bis an die Belastungsgrenze. Dadurch wird das Zentrale Nervensystem gestärkt. In der amerikanischen Kraftsportliteratur gibt es den Ausdruck GPP (General Physical Preparation), damit ist der allgemeine Leistungsstand des Körpers gemeint. Dieser wird nachhaltig erhöht durch permanente moderate Belastungen.
Belastungserscheinungen wie Übertraining oder gar Burn-Out-Syndrom werden vermieden durch eine stete Gewöhnung an eine Aktivität und anschließende individuelle Steigerung. In Indien ist es der Tradition nach üblich, dass jeder Ringer seinen eigenen Trainingsplan hat.
Dieser Ansatz geht auf die etwa dreitausend Jahre alte Gesundheitslehre Ayurveda zurück, wonach es für jeden Menschen eine Lebensweise gibt, die zu optimaler Gesundheit führt. Das bedeutet auch eine individualiserte Trainings- und Ernährungsweise.
So wie der Mensch im antiken Griechenland einem Idealbild entsprechen sollte und dazu ganzheitlich in seinen positiven Eigenschaften gefördert wurde, wird dieser Gedanke noch heute bei den letzten verbliebenen traditionellen Ringkampfschulen Indiens gepflegt. Die Schulen sind Trainingsstätte und Treffpunkt in einem. Sie sind dem Hindugott Hanuman geweiht, der das Sinnbild für Hingabe ist. In dem Maße, wie das Training mit Hingabe (ind.: Bhakti) ausgeübt wird, steigt die einem Menschen innewohnende Kraft (ind.: Shakti), welche durch einen harmonisch geformten Körper, feste Haut, glänzende Augen und eine sanfte Stimme nach außen tritt. Im Inneren wirkt sie durch friedfertige, freudvolle Gedanken und ein ruhiges, ausgeglichenes Gemüt.
“Dands and bethaks make the muscles of the body so incredibly strong that the wrestler appears divine. Dands and bethaks are the mirror in which the aura of wrestling is reflected. They are the two flowers which are offered to the “wrestling goddess.” Dands and bethaks are the two sacrifices made to the goddess of wrestling. If she is pleased she will bestow great strength and turn mere men into wrestlers.” (Atreya)