Renaissance- Training gemäß der menschlichen Natur
„Allen Menschen ist zuteil, sich selbst zu erkennen und verständig zu denken.“ (Heraklit)
Der Mensch sieht sich gerne als Krone der Schöpfung. Als solche ist er bestrebt sich die Erde untertan zu machen. Dabei übersieht er, dass die Krone der Zierrat eines Herrschers ist, nicht aber der Herrscher selbst.
Wäre der Mensch das vollkommenste Wesen, das die Evolution hervorgebracht hat, wäre er dennoch ihren Regeln und Gesetzmäßigkeiten unterworfen. Dies vergessend, wurden im Laufe der letzten Jahrzehnte Entwicklungen in Gang gesetzt, die uns zunehmend dessen berauben, was uns zum Menschen macht. Unsere körperliche Besonderheit ist der aufrechte Gang und alles was damit einhergeht. In geistiger Hinsicht zeichnet sich der Mensch unter anderem aus durch die Fähigkeit sich in der Zeit verorten zu können, indem er ein Bewusstsein für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hat. In diesem Sinne sind wir fähig zu Reflexion und Planung. Wir können eine Metaebene einnehmen und über uns in der Perspektive der dritten Person nachdenken. Wir können kreativ, also schöpferisch, tätig werden, sowohl um Probleme zu lösen, als auch um unsere Sinne zu erfreuen. Wir können uns und anderen Gutes tun oder uns und anderen Schaden zufügen. Und dazu können wir uns jederzeit frei entscheiden. Wenn wir wissen was ein Gut und was ein Schaden ist.
Im kollektiven Bewusstsein der Menschen war der Erwerb von Nahrungsmitteln stets mit Strapazen verbunden. Oftmals mit Gefahr, Anstrengung, Verletzung und Invalidität. Daher wurde die Bequemlichkeit stets als Gut angesehen und Anstrengung als etwas potentiell Schädliches. Das Schlaraffenland, wo Milch und Honig fließen und Brathähnchen durch die Lüfte fliegen, ist ein Sinnbild dafür. Der Begriff der deutschen „Gemütlichkeit“ ist international bekannt.
Wir leben in diesem Traum. Wenn wir etwas wollen, können wir in ein Geschäft gehen und es kaufen. Selbst wenn wir kein Geld dazu haben, können wir es klauen. Denn alles ist vorhanden. Wer nicht will muss sich nicht anstrengen.
Und verliert damit einen bedeutenden Teil des Menschseins: die Fähigkeit zu körperlichen und geistigen Höchstleistungen. Im Laufe der Menschwerdung und der Entwicklung zum homo sapiens war es vonnöten und unumgänglich eine schier unermessliche Anpassungsfähigkeit zu entwickeln. Menschen können nahezu überall leben und zu den widrigsten Umständen. Das verlangt einen robusten Körper, aber vor allem einen kreativen Geist. Einen Geist, der in der Lage ist seinen Standpunkt zu erkennen, zu analysieren, Ziele zu setzen und zu planen. Einen Geist, der es vermag den Körper an Grenzen heranzuführen und ihn diese überwinden zu lassen. Einen Geist der erkennt, dass Bequemlichkeit und Gemütlichkeit nur dann genossen werden können, wenn ihnen Anstrengung vorausging. Einen Geist, der sich selbst zu überwinden vermag.
Großartigen Denkern und ihren Erfindungen haben wir es zu verdanken, dass wir nicht zu diesem Wechselspiel gezwungen sind, sondern es frei wählen können. Niemand ist dazu gezwungen den Tag auf der Jagd zu verbringen, um, falls diese erfolgreich verlief, das Wild aufzubrechen, auszuweiden, zu häuten und über einem Feuer zu rösten. Oder falls die Jagd nicht erfolgreich war, sich hungrig auf einem Nachtlager aus kaltem, feuchten Boden schlafen zu legen.
Stattdessen können wir unserer Arbeit nachgehen und zum Ausgleich eine Sportart unserer Wahl ausüben oder einfach, aber umso schöner, Spaziergänge oder Wanderungen in der Natur unternehmen. Daraufhin können wir ein leckeres Abendessen in den eigenen vier Wänden genießen und in einem bequemen Bett schlafen.
Es liegt ganz bei uns, wie wir das Maß an körperlicher und geistiger Betätigung, das wir zur Gesunderhaltung benötigen, erhalten. Die Fitnessindustrie schafft dazu immer neue Trends, die Freude bereiten können, während unser Bewegungsapparat und Herzkreislaufsystem gekräftigt werden. Und da es sich um eine freie Entscheidung handelt, sollte bei der Wahl einer sportlichen Betätigung der Spaß an erster Stelle stehen!
Geht man jedoch einen Schritt weiter und überdenkt den Nutzen für unseren Körper, sollte man analytischer vorgehen, das Training hinterfragen und Vorteile gegen Nachteile abwägen.
Es gibt einige Entwicklungen, die kritisch betrachtet werden sollten. So scheint es immer beliebter zu werden Tierbewegungen nachzuahmen und, in eine Choreographie eingebettet, als Workout zu absolvieren. Der Nutzen wird damit begründet, dass es im Kung Fu und Yoga seit dreitausend Jahren üblich ist Tiere nachzuahmen und, dass der menschliche Bewegungsapparat dabei in besonderem Maße gefordert wird. (Unser Bewegungsapparat wird auch gefordert, wenn wir uns in eine winzige Kiste zwängen. Daraus hat allerdings noch niemand einen Sporttrend gemacht.) Die, mir bekannten bzw. zu recherchierenden, Vertreter dieses Konzeptes sind allesamt in körperlicher Bestform. Teilweise sind oder waren sie Leistungssportler, die zu enormen körperlichen Leistungen fähig sind.
Ebenso die Entwickler und Weiterentwickler von Kung Fu und Yoga. Sie waren mangels zivilisatorischer Annehmlichkeiten daran gewöhnt ein körperlich forderndes Leben zu führen. Strecken zu Fuß zurücklegen, Brennholz sammeln, Holzhacken, Wasser schöpfen und tragen, Getreide mahlen sind nur wenige Tätigkeiten aus dem damaligen Alltag. Wie ein Zen-Meister sagte: „Bevor ich Meister geworden bin, habe ich Wasser geholt und Holz gehackt. Nachdem ich Meister wurde, habe ich Wasser geholt und Holz gehackt.“
Wenn in diesem Kontext Tierbewegungen nachgeahmt werden, ist dies gewiss förderlich für das Wohlbefinden, da der Körper in einem ganz anderen Maße belastet oder auch entlastet wird als gewohnt. Dieses neuartige Trainingskonzept mag somit sinnvoll sein, für Menschen die über einen gesunden und leistungsfähigen Bewegungsapparat verfügen, wie dessen Entwickler. Andernfalls sollte dieser zunächst geschaffen werden.
Der heutige Arbeitsalltag spielt sich zumeist sitzend oder bestenfalls stehend ab. Nach einem sitzend eingenommenen Frühstück, wird der Weg zur Arbeit überwiegend sitzend im Auto bestritten. Auf der Arbeit sitzt oder steht man, bis man sich sitzend im Auto wieder nach Hause bewegt, wo man sich nach einem sitzend eingenommenen Abendessen einen schönen Abend sitzend auf der Couch macht. Körperliche Eigenheiten des Menschen wie der aufrechte Gang kommen dabei entschieden zu kurz. Das direkte Resultat sind Beschwerden des Bewegungsapparats, des Verdauungssystems, des Herzkreislaufsystems.
Was uns der moderne Alltag vorenthält ist eine Streckung der Wirbelsäule. Welchen Nutzen soll es da bringen, wie ein Tier auf allen Vieren zu laufen, zu hüpfen, zu krabbeln?
Sollten wir in unserer Freizeit als Ausgleich zum inaktiven Alltag nicht zunächst menschliche Bewegungsmuster etablieren? Unser Körper ist nach Jahrtausenden der Wanderschaft, der Jagd und des Kampfes daran gewöhnt zu laufen, rennen, springen, schwimmen, klettern, tragen, ziehen, heben, werfen- und ja, auch zu krabbeln und zu kriechen. Doch das Krabbeln und Kriechen erfordert eine Haltung der Wirbelsäule, die meiner beim sitzenden Schreiben dieses Artikels recht nahe kommt.
Bestehen die Zielsetzungen körperlicher Betätigung in einem Ausgleich zum Arbeitsalltag, Linderung von Beschwerden am Bewegungsapparat, Erleben des eigenen Körpers, Gewichtsreduktion, Gewichtszunahme, Fettverbrennung, Muskelaufbau oder Kraftaufbau, ist es, entgegen der Postulate der Fitnessindustrie nicht nur ausreichend, sondern notwendig das eigene Menschsein zu erkennen und zu zelebrieren. Die oben genannten Bewegungsformen kräftigen Körper und Geist. Werden diese an der frischen Luft ausgeführt, vollführt die Lunge Freudensprünge und das Tageslicht wird, selbst an bedeckten Tagen die Stimmung aufhellen. Das Erleben von Regen, Wind, Schnee und Nebel vermittelt ein Gefühl von Freiheit, als ließe man sich nicht von Widrigkeiten am Erreichen der Ziele hindern.
Das Konzept von gesunder Bewegung, das unseren Urahnen entlehnt wird, ist jedoch unvollständig, wenn wir Bewegung nur auf ihren praktischen Nutzen wie Jagd und Kampf reduzieren. Bei allen bekannten Urvölkern, die noch existieren, werden Formen von Tanz und Gesang gepflegt, wo Bewegung zum Selbstzweck wird. In sportmedizinischer Hinsicht sehe ich hierin einen besonderen Nutzen, da beim Tanzen die körperlichen Grenzen ausgeweitet werden können, ohne von einem mentalen Erschöpfungszustand begleitet zu werden. Zusätzlich wird der Körper bei entspanntem Geist bewegt, wodurch die Bewegungen locker fließen und wenig Muskelspannung besteht. Dieser Fluß der Bewegung wird ebenso bei den modernen Tiernachahmungspraktiken angestrebt, wie auch beim derzeit modernen Faszientraining. Dies wird noch effizienter kommt der Gesang hinzu. Der beinhaltet zwar wenig Bewegung, dafür werden Lunge und Bauchraum auf besondere Weise trainiert. Auch wirken Schwingung der Stimme und Tonlage wechselwirkend auf unseren Körper.
Unsere Vorfahren haben also vor Jahrtausenden bereits eine Lebensweise geführt, die mit unseren Bedürfnissen einherging.
Wie wir uns über die Jahre zunehmend selbst domestiziert haben, können wir uns nun emanzipieren und unsere Freiheit zurückerobern. Wir können uns als Menschen erleben und unserer Möglichkeiten und Freiheiten erfreuen. So kann die Krone der Schöpfung im Rahmen der Gesetzmäßigkeiten, denen sie unterworfen ist, ihre Renaissance gestalten und eine Brücke schlagen zwischen Natur und Moderne.
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ (Immanuel Kant)